AWB-Fallgruppen
Die Wasserrahmenrichtlinie benennt neben den natürlichen Fließgewässern auch so genannte künstliche Wasserkörper (artifical waterbody = AWB). Ein Fließgewässer wird als "künstliches Fließgewässer" eingestuft, wenn er sich an einer Stelle befindet, an der zuvor kein Gewässer war. Typische Vertreter sind Kanäle mit Häfen oder Gräben. Während bei natürlichen Wasserkörpern der gute Zustand zu erreichen ist, ist an künstlichen Wasserkörpern, wie übrigens auch an erheblich veränderten Wasserkörpern, das gute ökologische Potenzial zu erreichen.
Das höchste ökologische Potenzial (HÖP) ist definiert durch die angenommene Umsetzung aller technisch machbaren Maßnahmen zur ökologischen Aufwertung eines Wasserkörpers ohne signifikant negative Auswirkungen auf die spezifizierten Nutzungen oder die Umwelt im weiteren Sinne (gemäß Artikel 4 (3) WRRL). Das höchste Potenzial stellt die Bewertungsreferenz der künstlichen Fließgewässer dar.
Das gute ökologische Potenzial (GÖP) ist der Zustand, in dem „die Werte für die einschlägigen biologischen Qualitätskomponenten geringfügig von den Werten ab[weichen], die für das höchste ökologische Potenzial gelten.“ (WRRL Anhang V Nr. 1.2.5).
Gemäß § 5 der OGewV werden für die Ableitung des HÖP eines erheblich veränderten oder künstlichen Wasserkörpers die Referenzbedingungen des Gewässertyps herangezogen, der am ehesten mit dem betreffenden Wasserkörper vergleichbar ist. Dabei müssen jedoch die physikalischen Bedingungen, die sich aus den künstlichen oder erheblich veränderten Eigenschaften des Wasserkörpers ergeben, berücksichtigt werden.
Ausweisung der AWB-Fallgruppen
Die Ausweisung der AWB-Fallgruppen erfolgte durch Kombination der Gewässertypgruppe „Gräben / Kanäle“ mit den Nutzungen „Schifffahrt“ und „Gräben im Tiefland zur Be- und Entwässerung“ (Tab. 1).
Gewässertypgruppe |
Nutzung |
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Schifffahrt |
Gräben im Tiefland |
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Gräben / Kanäle |
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1) permanent wasserführend – freifließend 2) permanent wasserführend - (überwiegend) stehend 3) temporär wasserführend |
Die AWB-Fallgruppe der „Gräben im Tiefland“ beschreibt den Großteil der künstlichen Fließgewässer im norddeutschen Tiefland, die zur Be- und/oder Entwässerung (z. B. zur land- oder forstwirtschaftlichen Nutzung) angelegt wurden. Aufgrund der teilweise erheblichen Unterschiede in der Wasserführung und im Fließverhalten solcher Gräben wird diese AWB-Fallgruppe in folgende drei Untergruppen gegliedert:
- permanent wasserführend – freifließend,
- permanent wasserführend – (überwiegend) stehend,
- temporär wasserführend.
Steckbriefe der AWB-Fallgruppen
Die AWB-Fallgruppen sind in Steckbriefen beschrieben, die folgendermaßen aufgebaut sind (Abb. 1):
Auf der ersten Seite findet sich jeweils eine Kurzbeschreibung gefolgt von einer schematischen Skizze mit der typischen Ausprägung der Gewässer im ausgebauten Zustand (IST-Zustand) sowie im höchsten ökologischen Potenzial (HÖP). Im HÖP ist von den i. d. R. technisch machbaren Maßnahmen jeweils eine Auswahl der funktional bedeutsamsten Maßnahmen dargestellt. Anschließend werden die Gewässertypgruppen aufgeführt, die in Kombination mit der jeweiligen Nutzung die AWB-Fallgruppen bilden, z. B. „Gräben im Tiefland zur Be- und/oder Entwässerung“.
Auf der zweiten Seite wird zunächst die typische hydromorphologische Ausprägung der Gewässer im ausgebauten Zustand in Stichpunkten aufgezeigt (IST-Zustand). Aufbauend auf den technisch machbaren Maßnahmen folgt eine detaillierte Darstellung des HÖP in Bezug auf die Habitatstrukturen nach Morphologie gemäß den Parametern der LAWA-Strukturkartierung, Durchgängigkeit und Wasserhaushalt sowie in Bezug auf die Biozönosen für Makrozoobenthos und Fischfauna.
Abschließend wird das GÖP beschrieben. Die hydromorphologischen Habitatstrukturen werden dabei als grobe Orientierung in Form von drei Klassen (naturnah bis mäßig verändert, deutlich bis stark verändert, sehr stark bis vollständig verändert) abgebildet. Darüber hinaus werden Habitate mit Schlüsselfunktionen aufgezeigt, die für das Erreichen des GÖP (Biozönose) von besonderer Bedeutung sind.
Im Anschluss wird eine Definition des GÖP für das Makrozoobenthos und die Fischfauna gegeben.
Der Steckbrief schließt mit einer Übersicht potenzieller Maßnahmen ab, die grundsätzlich zur Erreichung des GÖP in den Wasserkörpern dieser Fallgruppen geeignet sind. Im Einzelfall können Maßnahmen entfallen, angepasst oder ergänzt werden.
Anwendung der AWB-Fallgruppen
Bei der AWB-Fallgruppe „Schifffahrtskanäle“ ist grundsätzlich keine biozönotische Bewertung anhand der WRRL-Verfahren möglich, da diese nicht entsprechend typisiert werden können. Eine Ausnahme bilden Schifffahrtskanäle mit starker Einbindung in Flusssysteme. Diese werden derzeit auch biozönotisch bereits durch die Bundesländer bewertet. Die Bewertung des ökologischen Potenzials wird anhand des ähnlichsten Gewässertyps vorgenommen. Unabhängig davon, ob eine Bewertung vorgenommen wird, sind Maßnahmen zur Verbesserung der Habitatstrukturen auch an Schifffahrtskanälen sinnvoll, die im Rahmen von Neu- oder Umbaumaßnahmen umgesetzt werden können.
Die insgesamt drei Untergruppen der AWB-Fallgruppe „Gräben im Tiefland“ zur Be- und/oder Entwässerung (außerhalb der Marschen) unterscheiden sich hinsichtlich der Berücksichtigung im Verfahren. Während an permanent wasserführenden Gräben eine biozönotische Bewertung sinnvoll und in der Praxis möglich ist, würde eine solche an temporären Gräben nur bedingt aussagekräftige Ergebnisse liefern. Zudem ist die praktische Durchführbarkeit von Probennahmen hier i. d. R. stark eingeschränkt. Demnach wurden für die permanent wasserführenden Gräben im Tiefland entsprechende Bewertungsverfahren für das Makrozoobenthos (MZB) und die Fische hergeleitet, wohingegen für temporäre Gewässer keine biozönotische Bewertung erfolgt.
Neben den genannten Be- und Entwässerungsgräben gibt es weitere Gräben und Kanäle, die als Aus- oder Ableitungswege zu unterschiedlichen Zwecken angelegt wurden („Sonstige Gräben / Kanäle“). Zu diesen gehören z. B. Mühlengräben. Da diese Gewässer in Abhängigkeit von der jeweiligen Funktion und der hydromorphologischen Ausprägung sehr heterogen ausgebildet sind, können diese nicht sinnvoll in einer AWB-Fallgruppe zusammengefasst werden, in der vergleichbare Habitate und Maßnahmen enthalten sind. Für solche Gräben und Kanäle ist daher grundsätzlich eine Einzelfallbetrachtung erforderlich, in der die potenziellen Habitate im HÖP sowie zielführende Maßnahmen zur Erreichung des GÖP beschrieben werden. Die biozönotische Bewertung des ökologischen Potenzials kann teilweise basierend auf der ähnlichsten AWB- bzw. HMWB-Fallgruppe vorgenommen werden. Sofern dies nicht sinnvoll möglich ist, ist auch für die Bewertung eine individuelle Herleitung durchzuführen (analog zum Vorgehen an HMWB). Demnach kann beispielsweise die Bewertung von (schneller fließenden) Be- und Entwässerungsgräben und -kanälen im Mittelgebirge häufig anhand der HMWB-Fallgruppe „Mittelgebirgsbäche mit Urbanisierung ohne Vorland“ erfolgen.
Die Abbildung 2 enthält eine Übersicht über die genannten AWB-Fallgruppen. Darin sind die einzelnen Inhalte zu jeder Fallgruppe auf der „Maßnahmenseite“ (Maßnahmen und Habitate) und auf der „Bewertungsseite“ enthalten. Auf der Maßnahmenseite wird zudem die Differenzierung nach Art bzw. Nutzung, Wasserführung und Fließverhalten abgebildet.